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47.000 Zuschauer sangen und johlten im größten Sportstadion von Auckland, Neuseeland, als die heimischen All Blacks das angereiste Rugby-Nationalteam aus Australien mit einer deftigen Niederlage nach Hause schickten.
Das war Mitte Oktober, am Tag nach der Parlamentswahl. Und allein die Tatsache, dass Zehntausende Menschen während der Corona-Pandemie Eintrittskarten kaufen konnten, um ohne Maske im Gesicht ihre Rugby-Mannschaft zu feiern, erklärt das Ergebnis dieser Wahl schon ziemlich gut.
Jacinda Ardern gewann nicht nur, sie triumphierte. Die Regierungschefin, die rechtzeitig vor der Wahl das Virus niedergekämpft hat, ist damit endgültig ein globaler Superstar, eine Frau, um die der abgelegene Pazifikstaat mit seinen fünf Millionen Einwohnern beneidet wird.
"Amerika verdient eine politische Führung, die so gut ist wie Jacinda Ardern"
Leitartikel der "New York Times"
Bisher war ihr Ansehen außerhalb Neuseelands höher als daheim. Überall in der westlichen Welt träumten viele im linksgrünen Spektrum davon, eine wie sie an der Spitze zu haben. "Amerika verdient eine politische Führung, die so gut ist wie Jacinda Ardern", überschrieb die "New York Times" im vorigen Jahr einen Leitartikel.
Nun hat auch ihre eigene Nation die Sozialdemokratin ins Herz geschlossen. Im Parlament in Wellington verfügt Arderns Labour Party über 64 von 120 Sitzen, 18 mehr als nach der vergangenen Wahl. Seit 1951 konnte niemand das Land mit absoluter Mehrheit regieren. Die Populisten von New Zealand First, auf die Ardern in der vergangenen Legislaturperiode in einem Dreierbündnis mit den Grünen angewiesen war, verschwanden mit 2,6 Prozent der Stimmen in der Versenkung.
Scheinbar mühelos verbindet Ardern Beruf und Familie
Doch obwohl die 40-jährige Partei- und Regierungschefin nun die ganze Macht an sich ziehen könnte, setzte sie auf Kooperation. Gleich nach der Wahl umwarb sie die Grünen und begann Verhandlungen mit dem Ziel, die Zusammenarbeit fortzusetzen. "Wir können ihre Stärken gebrauchen", sagte sie.
Dass Ardern auf andere zugeht, ohne dass sie dazu gezwungen wäre, ist im politischen Strategiespiel eine seltene Variante: Macht abgeben, um Macht zu sichern. Eine formale Koalition wird es zwar nicht geben, wie seit heute feststeht, dennoch erhalten die Grünen zwei Ministerposten, den einen für Klimawandel und den anderen für die Verhinderung von häuslicher und sexueller Gewalt. Ein Zeichen setzte Ardern außerdem mit der Berufung von Nanaia Mahuta zur Außenministerin. Mahuta hat sich vor vier Jahren eine traditionelle Maori-Tätowierung ins Gesicht stechen lassen.
Den grünen Wunsch nach einer Reichensteuer hatte Ardern gleich zu Beginn der Gespräche zurückgewiesen, doch es war klar, dass die Schnittmengen beim Klimaschutz groß sind. Privat fährt Ardern, die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten eine zweijährige Tochter hat, schon länger ein Elektroauto. Diese Woche wurde bekannt, dass als Dienstwagen für die Regierung drei Audi e-tron 55 angeschafft werden sollen, einer davon mit Kindersitz.
Als sie 2017 die Führung ihrer Partei übernahm, sah es für Labour nicht gut aus. Sieben Wochen vor der Wahl lagen die Sozialdemokraten in den Umfragen deutlich hinter der Nationalpartei, die dann auch die meisten Stimmen erhielt. Trotzdem gelang es Ardern, die von den Konservativen geführte Regierung abzulösen.
Nach Anschlag in Neuseeland: Wie Jacinda Ardern gegen Terrorpropaganda im Netz vorgehen willVon Sonja Peteranderl
Neuseelands Regierungschefin: Ardern will Name des mutmaßlichen Attentäters nicht aussprechen
Soziale Gerechtigkeit, Wohnungsbau und Umweltschutz im Zeichen des Klimawandels waren ihre wichtigsten Themen. Prägend für ihr Image wurden jedoch nicht die Sachfragen, sondern ihre öffentlichen Auftritte und die Art, mit der es ihr scheinbar mühelos gelang, Beruf und Familie zu verbinden.
Nach der Geburt ihrer Tochter im Juni 2018 nahm sie sechs Wochen Elternzeit, dann arbeitete sie weiter. Die Bilder, die sie mit der drei Monate alten Neve während der Uno-Generalversammlung in New York zeigten, gingen um die Welt.
Ein halbes Jahr danach, am 15. März 2019, marschierte ein bewaffneter Mann im neuseeländischen Christchurch in eine Moschee und schoss auf die Betenden. Dann fuhr er zu einer zweiten Moschee und schoss dort wieder. 51 Menschen starben, der rassistische Attentäter wurde im August dieses Jahres zu lebenslanger Haft verurteilt.
Als sich nach dem Massenmord alle Augen auf die Ministerpräsidentin richteten, tat sie genau das Richtige. Sie legte sich ein Tuch über die Haare, umarmte Angehörige der Opfer und sagte über die nach Neuseeland Eingewanderten: "They are us" – sie gehören zu uns.
Bei Auftritten wie nach dem Christchurch-Attentat wirkt sie empathisch, in ihrer Kommunikation erscheint sie nahbar und direkt. Auch sonst hat sie im passenden Moment Drei- oder Vier-Wort-Sätze parat, die hängen bleiben. "Go hard, go early" wurde zu ihrem Leitspruch während der Corona-Pandemie: hart und früh das Virus attackieren. "Tomorrow we start", morgen geht’s los, sagte sie jetzt nach ihrem Wahlsieg.
Schon während ihrer Schulzeit war Jacinda Ardern eine, die auffiel. In der 12. Klasse wurde sie zur Schulsprecherin gewählt, bis dahin hatten gewöhnlich die Älteren aus der 13. Klasse diese Aufgabe übernommen. Nach einem Jahr wurde sie wiedergewählt. Sie setzte durch, dass die Mädchen genauso wie die Jungs mit Shorts in die Schule gehen durften und dass es für Schülerinnen und Schüler keine Pflicht mehr war, das Hemd in die Hose zu stecken.
John Inger leitet die Schule, auf der Ardern ihren Abschluss gemacht hat. Freundlich schaut er in die Kamera seines Computers, hinter ihm hängt ein Wimpel des Schulteams. Im Gespräch über seine ehemalige Schülerin wird schnell klar: Inger ist ein Fan. "Sehr, sehr kreativ" sei sie, "sehr redegewandt" und "blitzgescheit".
Für das Jahrbuch ihrer Abschlussklasse wurde wie in vielen Abiturjahrgängen gefragt, was wohl aus wem werden würde. Auf Seite zehn heißt es: "Wer wird am wahrscheinlichsten Ministerpräsident?" Die Antwort: Jacinda Ardern. Darauf später angesprochen, sagte sie, dass sie damals eben die Einzige gewesen sei, die sich für Politik interessiert habe.
Bei Wahlversprechen blieb sie hinter den Ankündigungen zurück
Trotz allem war die erste Amtszeit nicht einfach für sie. Während der in Neuseeland dreijährigen Legislaturperiode blieb sie bei mehreren Wahlversprechen hinter den Ankündigungen zurück. Der Wohnungsbau kam nur schleppend voran, die Kinderarmut im Land ist noch lange nicht beseitigt.
Vor einem Dreivierteljahr lagen Arderns Sozialdemokraten in Umfragen deutlich hinter der Nationalpartei zurück, ein Machtverlust wäre keine Überraschung gewesen. Dann breitete sich das Coronavirus über die Welt aus.
Unter Arderns Führung schottete sich die Nation ab, ein abgestufter Lockdown wurde verhängt. Anfang Juni, als die Infektionsrate schon eine Weile gegen null ging, hob die Regierung sämtliche Einschränkungen auf, ausgenommen die Einreisesperren. Die Neuseeländer lebten jetzt praktisch wieder auf Corona-freien Inseln.
Allerdings kehrte das Virus zurück, in Auckland brach im August ein Cluster mit 179 Covid-19-Fällen auf. Gemäß Arderns Devise "go hard, go early" reagierte das Land mit erneuten Restriktionen – eine Strategie, die sich ein zweites Mal auszahlte. Anfang Oktober, zwei Wochen vor der Wahl, endeten die letzten Einschränkungen. Überall im Land können die Menschen wieder feiern, ins Theater oder zum Rugby gehen. Sämtliche Maßnahmen gegen ein Wiederaufflammen von Infektionen soll nun ein neu ernannter Minister für die Covid-19-Bekämpfung koordinieren.
Sie ist patriotisch und denkt gleichzeitig über Grenzen hinaus
Nach dem überwältigenden Sieg sind die Erwartungen an die neue und alte Regierungschefin nicht geringer geworden. Noch am Wahlabend signalisierte Ardern, dass sie verstanden habe: Sie und ihre Partei seien "absolut und vollständig auf Neuseeland fokussiert".
Ihre Landsleute wissen patriotische Töne zu schätzen. Dass Ardern gleichzeitig über nationale Grenzen hinaus denkt, deutete sie ebenfalls an. "Wir leben in einer immer stärker polarisierten Welt", sagte sie, "immer mehr Menschen haben die Fähigkeit verloren, die Sichtweisen anderer zu verstehen". Sie wolle zeigen: "So sind wir nicht." Mit solchen Sätzen erreicht sie nicht nur in Neuseeland viele Herzen.